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Perspektivwechsel

„Versetz dich doch mal in die Lage des anderen…“, diesen Satz hört man nicht nur des Öfteren in Gesprächen mit Kollegen, die einem einen gut gemeinten Rat geben wollen, sondern der sogenannte Perspektivwechsel ist auch eine sehr bewährte Methode in Coachingprozessen und in der Konfliktklärung. 

Es kann sehr hilfreich sein, sich mal auf den Stuhl des anderen zu setzen, um seinen eigenen Blick neu auszurichten und Verständnis für das Verhalten und die Motive des Gegenübers zu bekommen. Durch Fragen gelenkt funktioniert dies in vielen Fällen sehr gut, verändert die Sichtweise und bringt neue Ideen und Handlungsimpulse zum Vorschein.

Es passiert aber auch, dass die Idee – doch mal ein Perspektivwechsel vorzunehmen – mit einem Augenrollen beantwortet wird, was so viel bedeutet wie: „Oh, nein danke – das brauch ich jetzt echt nicht!“ Ein innerer Widerstand, ein Sträuben auch nur kurz eine andere Sichtweise einzunehmen oder gar anzuhören. 

Es gibt einfach Situationen, in denen der Perspektivwechsel (noch) nicht funktioniert. Dann geht zu diesem Zeitpunkt in erster Linie darum, bei sich selbst zu bleiben – ganz nach dem Motto: Der Schlüssel für die Lösung liegt sowieso in mir!

Es ist mehr als nur das Wissen um die subjektive Wahrnehmung

Unsere Wahrnehmung ist rein subjektiv – diese zentrale These des Konstruktivismus sowie die vielen Bilder, in denen man z.B. eine alte oder eine junge Frau sehen kann, kennen mittlerweile viele. Und auch die neuen Ergebnisse der Hirnforschung stützen den konstruktivistischen Diskurs.

Die Unterschiedlichkeit der Wahrnehmung ist im Alltag oft der Auslöser für Missverständnisse und handfeste Konflikte. Genau hier kommt dann der Perspektivwechsel als bewährtes Mittel zum Einsatz. Kann ich mich jedoch (noch) nicht auf die Sichtweise meines Gegenübers einlassen, sollte ich zunächst meine eigene Wahrnehmung genauer anschauen. Und dies kann kompliziert genug sein!

Die Schwierigkeit ist, dass es bei unserer subjektiven Wahrnehmung immer auch um unsere individuellen Erfahrungen im Leben geht. Um unsere eigenen Muster, die sich aus unseren Prägungen ergeben haben und bestimmen, wie wir die Dinge wahrnehmen. Diese Prägeerfahrungen lenken unsere Wahrnehmung. Bewusst oder unbewusst haben wir bestimmte Erwartungen, wie „die Welt“ sein wird. Je nach Erfahrung, können diese eher positiv oder negativ sein. Bei als negativ bewerteten Erfahrungen nehmen wir ein bestimmtes Verhalten oder eine bestimmte Situation vielleicht als Gefahr wahr, obwohl es in der aktuellen Situation gar keine Gefahr gibt. Fast automatisch wird nur zu oft eine neue Situation mit einer bereits bekannten gleichgesetzt. Oft sind es tiefgreifende und sich langjährig wiederholende Muster, die die eigene Sichtweise lenken. 

Da sich die Wahrnehmungsmuster oft der bewussten und willentlichen Steuerung entziehen, ist es ist auch gar nicht so einfach, die subjektive Brille einfach mal schnell abzusetzen. Der Blick durch die eigene Brille kann wie ein Sog sein, wie eine Brille, die sich quasi immer wieder von alleine aufsetzt. Wir sehen, was wir (zum Teil unbewusst) erwarten – aufgrund unserer Erfahrungen und Prägungen. Dabei werden „alte Emotionen“ wieder und wieder aktiviert, wir halten sie für wahr, weil sie sehr vertraut sind – auch wenn es vielleicht mit Blick auf die aktuelle Situation gar nicht mehr passt. 

Unsere Wahrnehmung und die ausgelösten Emotionen beinhalten also viele Fehlerquellen, da eine neue Situation ganz leicht im Spiegel einer alten Situation gesehen werden kann. Oder anders gesagt: Es ist nicht selten (nur) die Angst oder Sorge vor der eigenen Wahrnehmung, die eine Konfliktsituation entstehen lässt.

Ein Beispiel: Was passieren kann, wenn wir einfach jeden unserer Gedanken glauben

Erzeugt ein Perspektivwechsel inneren Widerstand, geht es zunächst darum zu verstehen, was eigentlich durch die eigene Wahrnehmung und den daraus folgenden Interpretationen bei einem selbst passiert. 

Es sind unsere Gefühle, die durch bestimmte Gedanken zu der Situation von uns selbst erzeugt werden. Aufgrund unserer Vorerfahrungen analysieren wir Situationen oft blitzschnell – und diesen Interpretationen können wiederum viele Fehlerquellen zugrunde liegen.

Ein kurzes Beispiel hierzu: Ich hatte als Kind einen recht guten Bezug zu meiner Tante und meinen Onkel. Mein Onkel war ein großer, kräftiger Mann mit lauter Stimme. Er lachte gerne über seine eigenen Witze, und gerade große Runden unterhielt er gerne mit seinen Geschichten. Mit manchen Sprüchen machte er sich dann auch über mich lustig – so empfand ich es zumindest, wenn er etwas laut über mich erzählte und dann alle in schallerndes Gelächter ausbrachen. Ich spürte Scham und hatte das Gefühl mich nicht wehren zu können. Ich war zu klein, um in solchen Situationen schlagfertig zu sein. Irgendwann war ich dann erwachsen, ging zur Uni und hatte meine ersten Jobs. Und wie es der Zufall will, gab es Professoren und Chefs, die meinem Onkel irgendwie ähnlich waren. Sie hatten äußerliche Ähnlichkeiten oder sprachen ähnlich. Dies wirkte unbewusst, holte Altes hervor und ließ mein Alarmsystem anspringen. Ich witterte die alte Gefahr. Und ich vertraute meinen Annahmen, denn sie stimmen für mich. Wenn jemand z.B. so einen Satz anfängt oder sich so und so verhält, dann folgt das und das. Und sich klein und unsicher zu fühlen sollte vermieden werden – also ging ich in Vorwärtsverteidigung! Die Situationen habe ich aus den Augen meiner Erfahrung wahrgenommen und mir Verhaltensstrategien zugelegt, um möglichst von den alten, blöden Gefühlen verschont zu bleiben.

Auf Alarm gestellt, interessiert nicht wirklich, was die tatsächliche Absicht des anderen ist – zu sehr ist man mit Vermeidung oder Abwehr beschäftigt. Das ist nicht nur anstrengend, sondern kann auch destruktive Konflikte erzeugen. Erst wenn man das Dilemma erkennt, kann man Situationen neu bewerten, die Perspektive des anderen einnehmen und sich von Drama verabschieden. Sollte es dann wirklich zu Konflikten oder herausfordernden Situationen kommen, kann man diese konstruktiv lösen.

Wichtig ist, sich dieser Annahmen und Interpretationsmuster bewusst zu werden, zu hinterfragen, ob das überhaupt stimmt bzw. jetzt und heute auch noch Gültigkeit hat. Oft leiden wir oder erzeugen Konflikte, weil wir unseren Gedanken glauben. Nur zu oft sind es nicht die anderen oder die äußeren Umstände um uns herum, sondern wir selbst müssen prüfen, ob es (noch) stimmt, was wir glauben. Einfach nur den Gedanken hinterfragen – ohne den Versuch gleich etwas oder jemanden verändern zu wollen.

Es geht darum, der Illusion oder Selbsttäuschung auf die Schliche zu kommen und die eigene Wahrheit zu entdecken – dies ist der Schlüssel, um unsere Verhaltensmöglichkeiten zu erweitern und mehr Gelassenheit zu erleben.

(Über-)Reaktionen als Schutzfunktion aufgeben

Reaktionen, die wir aufgrund unserer Interpretation treffen, entsprechen meist auch unseren gelernten Mustern. Oft geht es ganz fix – nur ein kurzer Abwägungsprozess. 

Meist geht es dabei darum, etwas zu vermeiden – etwas nicht zu erleben oder zu fühlen, etwas wovor man sich schützen möchte. Man möchte bestimmte Sachen nicht noch einmal erleben. Ohne zu prüfen, ob es überhaupt realistisch ist, dass eine unangenehme Situation entsteht, kommt es zu (Über-)Reaktionen. Diese können ganz unterschiedlich sein und natürlich je nach Situation variieren. Es kann sein, dass jemand ablenkt, sich zurückzieht oder in eine Art Vorwärtsverteidigung geht, indem Angriff als Verteidigungsmechanismus gewählt wird. Möglich ist auch, dass jemand anfängt ganz viel zu reden, um so zu verhindern, dass er erlebt oder hört, was er befürchtet. Aus dem Grund mag man ja auch die Perspektive des anderen in dem Moment nicht hören, weil da die Sorge ist, z.B. vor Kritik oder Zurückweisung.

All dies ist aber oft unbewusst und das macht es mehr als kompliziert. Wir erzeugen durch unser eigenes Verhalten, durch unsere Reaktionen auf das was wir wahrnehmen, oft immer wieder ganz ähnliche Situationen – eine neue Bestätigung für das alte Muster.

Wird aber eine Reaktion oder Handlung aufgrund einer neuen Bewertung der Situation und somit aus einer neuen Wahrheit heraus vollzogen, wird die Offenheit für andere Sichtweisen (wieder) möglich. Die Situation kann angstfrei angeschaut und dramafrei erlebt werden. Vielleicht ist man mit der Sichtweise des anderen nicht einverstanden, aber zumindest stellt der Konfliktpartner keine Bedrohung mehr dar.