Stärken-Scout

Eine der Hauptaufgaben für Führungskräfte ist es, die Mitarbeitenden so einzusetzen, dass sie ihre Fähigkeiten und Talente einbringen und bestenfalls weiter entfalten können. Die Führungskraft ist also Stärken-Scout und Potenzial-Entfalter. Das bedeutet gleichzeitig, dass nicht jeder alles können muss. Ein Team, bei dem der Satz „Bei uns machen alle weitestgehend alles“ gilt, wird nie ein wirkliches High-Performance-Team. Vielmehr geht es darum, die Zusammenarbeit so zu strukturieren, dass einzelne Leistungen und individuelle Potenziale sich ergänzen und gut ineinandergreifen. Auch wechselseitige Unterstützung kann dabei sinnvoll sein.

Wie erkennt eine Führungskraft nun aber das Potenzial seiner Mitarbeiter(innen)?

Die Antwort auf diese Frage findet man schneller, wenn man sie andersherum stellt. Man erkennt das Potenzial nicht, wenn der Blick vordergründig auf die Schwächen gerichtet ist, und darauf, was jemand nicht kann. Denn es geht gar nicht darum, dafür zu sorgen, dass jeder alles kann, sondern jeden Einzelnen genau dort einzusetzen, wo er/sie besonders gut ist. 

Interessant wird es, wenn man nicht nur mit Blick auf die Fachkompetenzen anerkennt, dass nicht jeder alles können muss, sondern es auch auf die Soft Skills bezieht. Nehmen wir mal an, jemand hat seine Schwäche beim Thema Ordnung, und das wird in jedem Mitarbeitergespräch zum zentralen Thema erklärt. Das ist alles andere als Erfolg versprechend, denn die Stärken und das eigentliche Potenzial geraten dabei aus dem Blickfeld. Zudem werden vermeintliche Schwächen einfach nicht zu Stärken und lassen sich auch nicht einfach ausbügeln oder wegtrainieren. Man kann nur lernen, so gut wie möglich mit ihnen umzugehen, sodass sie die Entfaltung des eigenen Potenzials und die Zusammenarbeit mit anderen nicht behindern. Anstatt zu akzeptieren, dass Ordnung nie eine Stärke dieses Teammitglieds wird, wird sich jedoch oft ausschließlich auf diese Verhaltensweise konzentriert. Und meist umso mehr, je mehr es vom Idealbild der Führungskraft abweicht – oft sogar auch dann, wenn diese Verhaltensweise für den Arbeitserfolg nur eine geringe Relevanz hat. Die Stärken werden dagegen meist erst spät oder sogar zu spät erkannt, zum Beispiel dann, wenn der Mitarbeitende nicht mehr im Unternehmen ist oder seine Leistung (aus Frust) runtergefahren hat. Dann heißt es vielleicht: „Er war zwar ein Chaot und total unordentlich, aber er hatte einfach die innovativsten und besten Ideen!“

Wenn sich Führungskräfte mit ihren Leuten zusammensetzen, geht es meist darum, was nicht gut läuft. Die Schwächen der Mitarbeitenden können dabei manchmal eine so große Rolle spielen, dass alles andere in Vergessenheit gerät. Und haben sich der Blick und die Wahrnehmung erst einmal darauf eingeschossen, ist es nicht mehr leicht, etwas anderes als die Schwächen zu sehen. Wir sehen das, worauf wir unsere Aufmerksamkeit richten und das bestimmt wiederum die Erfahrungen, die wir mit der Welt und unseren Mitmenschen machen. Manchmal entsteht ein regelrechter Tunnelblick, der eine konstruktive Zusammenarbeit sogar gänzlich unmöglich macht, weil die positiven Seiten gar nicht mehr wahrgenommen werden (können).

Wenn sich Potenzial in Leistung umsetzen soll, müssen die Stärken gesehen werden

Eine rein ressourcenorientierte Haltung würde dagegen den Blick auf alles Gute und Positive richten, aber in keinem Fall auf die Schwächen. Aus meiner Sicht ist das in einer solchen Reinform in der Arbeitswelt ebenso wenig möglich, weil kritische Punkte durchaus angesprochen werden müssen. Sich aber zu vergegenwärtigen, dass es Erfolg versprechender ist, sich auf die Stärken seiner Mannschaft zu konzentrieren und diese zu fördern, macht in jedem Fall Sinn.

Es gibt einen ausgeprägten Defizit-Blick in Deutschland, der sich auch durch das komplette Bildungssystem zieht. Das, was gut läuft, wird als normal und selbstverständlich angesehen und oft nicht weiter thematisiert. Die Aufmerksamkeit gilt den Schwächen, Fehlern und Versäumnissen. Und natürlich dem, was dem eigenen Ideal nicht entspricht. Das prägt Kultur nicht unbedingt im positiven Sinne und hemmt die Potenzial-Entfaltung.

Legt der Chef zum Beispiel viel Wert auf Gruppenzusammenhalt, Austausch und ein harmonisches Miteinander, dann wird die „Teamfähigkeit“ im Gespräch mit einem konzentrierten Einzelarbeiter sicherlich immer wieder als eine Schwäche thematisiert. Die Vorteile der konzentrierten Detailarbeit können dabei leicht übersehen werden. Aber warum muss die Freude am Austausch mit anderen zwingend als eine größere Stärke gelten als der Wunsch nach einer ungestörten Arbeitsatmosphäre und möglichst wenig Diskussionen? Weniger Wertungen und insbesondere weniger Abwertungen von Persönlichkeitseigenschaften kann die Potenzial-Entfaltung entscheidend fördern.

Folgt man im Führungsalltag einfach seinem subjektiven Idealbild und übersieht dabei die Individualität und/oder die Besonderheiten der Persönlichkeiten, können Minderleistungen und Motivationsprobleme entstehen. 

Motivationskrisen entstehen, wenn die Individualität übersehen wird

Es lassen sich verschiedene Phänomene beschreiben, die für Motivationsverluste und Leistungsreduzierung sorgen können. 

Wird zum Beispiel von sozialem Müßiggang gesprochen, ist damit gemeint, dass eine unbewusste Entscheidung zur Leistungsreduzierung getroffen wurde. Dies kann also ein klassischer Fall sein von „Toll, ein anderer macht´s.“ Es wird einfach öfter darauf vertraut, dass schon irgendwer die Arbeit erledigt. Eine mögliche Ursache ist, dass die eigene Leistung und Anstrengung im Teamergebnis nicht ausreichend sichtbar sind. Die Leistung lässt schleichend nach, und da die Gruppenmitglieder dies selbst gar nicht merken, ist es besonders schwierig, dieser Falle wieder zu entkommen. 

Trittbrettfahren beschreibt dagegen die komplett bewusste Entscheidung von Mitgliedern einer Gruppe, weniger Leistung zu erbringen, als ihnen möglich wäre. Dieses Phänomen kann auftreten, wenn jemand annimmt, dass seine Leistung überflüssig oder unwichtig ist. Je größer die Gruppe ist und der Einzelne damit weniger zur Geltung kommt, umso wahrscheinlicher könnte dies also sein. 

Diese Motivationsfallen zeigen schon, welche Risiken es gibt, wenn der Einzelne nicht wahrgenommen und lediglich an allgemeingültigen Anforderungen gemessen wird. Zeigen sich diese Phänomene, sind Führungskräfte gefordert, möglichst rasch zu reagieren und ihre Mitarbeitenden auf eine individuelle Art und Weise wahrzunehmen. Dies geht mit der Fähigkeit einher, wirklich gutes Feedback geben zu können und die individuellen Stärken zu benennen. Äußerst wichtig ist, dass es nicht nur ein daher gesagtes Lob ist, denn die Mitarbeitenden spüren instinktiv sofort, wenn sie nur Aufmerksamkeit bekommen, weil man im Anschluss etwas von ihnen möchte – z. B. einfach wieder zu funktionieren. Dann kann die Trotzreaktion noch viel größer ausfallen. Sehen Sie hierzu auch: https://zielklar.com/selbstwertorientiert-fuehren-3-punkte-auf-die-es-dabei-wirklich-ankommt/

Die Frage „Was habe ich davon – und zwar nicht nur materiell, sondern auch in meiner Entwicklung?“ stellen sich immer mehr Arbeitnehmer(innen). Dahinter steht unter anderem der Wunsch, mit seiner Persönlichkeit wirklich gesehen zu werden und wichtig zu sein bzw. einen Beitrag zu einem als sinnvoll angesehenen Ziel zu leisten. Dialoge hierzu sind in der Arbeitswelt allerdings noch nicht selbstverständlich.